Auch 100 Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts in Deutschland sitzen deutlich weniger Frauen als Männer in deutschen Parlamenten. Im Bundestag sind 31,3% der Abgeordneten weiblich, in den Landtagen variiert der Anteil zwischen 24,5% (Baden-Württemberg) und 40,6% (Thüringen). Insbesondere Grüne, Linke und SPD machen dafür eine strukturelle Benachteiligung von Frauen in innerparteilichen Nominierungsprozessen verantwortlich. Die geringere Präsenz von Frauen in der Politik führe zudem zu einer schlechteren Berücksichtigung von Frauen durch die Politik, da deren „spezifische Perspektiven und Interessen nicht angemessen gespiegelt werden“ (Parité-Gesetzentwurf der Grünen in Brandenburg). Folgerichtig wird der Staat in der Pflicht gesehen, durch aktive Gleichstellungspolitik Geschlechterparität durchzusetzen, wo demokratische innerparteiliche Nominierungsprozesse dies nicht vermögen. Diese Grundidee steht hinter zahlreichen Initiativen, die aktuell in verschiedenen Bundesländern und auf Bundesebene verfolgt werden. In Brandenburg wurde im Januar nun das erste Paritätsgesetz verabschiedet.
Mit ihrer Mehrheit im Landtag in Potsdam beschlossen SPD, Linke und Grüne gegen die Stimmen von CDU und AfD, dass Parteien ab 2020 ihre Listen im „Reißverschlussverfahren“, also abwechselnd von männlichen und weiblichen Kandidaten besetzen müssen. Ein weitergehender Vorschlag der Grünen sah auch den Einbezug der Wahlkreiskandidaturen durch Wahlkreisduos aus Frauen und Männern vor, konnte sich aber nicht durchsetzen. Während auf den mit der Zweitstimme gewählten Listen künftig Geschlechterparität vorgeschrieben ist, bleiben die mit der Erststimme gewählten Direktmandate also zunächst unberührt. Wie hätte sich eine solche, gesetzlich vorgeschriebene paritätische Besetzung der Parteilisten auf den aktuellen Bundestags ausgewirkt? Wird damit Geschlechterparität erreicht, obwohl Direktmandate nicht reguliert werden? Hätte eine Konzentration auf die Gleichstellung von Frauen auch Auswirkungen darauf, wie gut verschiedene soziale Gruppen (beispielsweise Bürgerinnen und Bürger ohne Hochschulabschluss) über Abgeordnete im Bundestag vertreten sind?
Wir sind diesen Fragen nachgegangen, indem wir die 4828 Kandidatinnen und Kandidaten der Bundestagswahl 2017 erneut zur Wahl haben antreten lassen, diesmal aber unter den Bedingungen des Paritätsgesetzes. Zunächst haben wir alle erfolgreichen Walkreisbewerber wieder in den Bundestag einziehen lassen, da sie vom Paritätsgesetzt nicht berührt sind. Die erfolgreichen Listenplätze haben wir allerdings neu vergeben. Die ursprünglichen Landeslisten der Parteien wurden dazu aufgetrennt und nach dem Reißverschlussverfahren neu zusammengesetzt. Auf nicht paritätisch besetzten Listen rückten entsprechend Frauen vor, auf jeden ersten, dritten, fünften Listenplatz usw.
Insgesamt betrachtet wären die Auswirkungen eines solchen Paritätsgesetz auf den Bundestag eher gering. Der Anteil von Frauen im Bundestag würde um lediglich acht Prozentpunkte auf rund 39% ansteigen. Dies liegt daran, dass Frauen seltener in Wahlkreisen kandidieren und dabei auch weniger erfolgreich als Männer sind. Bei den Parteien, die die meisten Wahlkreise gewinnen, also bei CDU und CSU, aber auch bei der SPD sind erfolgreiche Direktkandidaturen eine Männerdomäne. Ohne Einbezug der Direktmandate ist der Effekt eines Paritätsgesetzes daher gering. Da bei der Union viele Kandidaten (und kaum Kandidatinnen) über den Wahlkreis in den Bundestag einziehen, bleiben wenig erfolgreiche Listenplätze (nur 15) übrig, auf denen weitere Frauen in die Fraktionsgemeinschaft aus CDU/CSU gelangen könnten. Für die Zusammensetzung der Union änderte sich entsprechend kaum etwas. Vier Frauen wären anstelle von vier Männern in den Bundestag eingezogen, der Frauenanteil in der Fraktion wüchse von 20 auf 21,5%. Ähnliches gilt für die SPD, bei der nun fünf Frauen mehr in der Fraktion säßen (allerdings bei einem deutlich höheren Gesamtanteil von 45%). Praktisch bedeutungslos wäre das Gesetz für die Linke und Grüne, die ihre Listen bereits paritätisch besetzen. Jedoch würde sich die Zusammensetzung von AfD und FDP massiv ändern: Die Anzahl der Frauen in der AfD stiege von 11 auf 27, bei der FDP von 18 auf 43. Während die FDP-Fraktion damit paritätisch besetzt wäre, blieben bei der AfD-Fraktion die Männer mit über 70% nach wie vor deutlich in der Überzahl. Die AfD hat schlicht nicht genug Frauen auf den Landeslisten, um alle ihre Listenmandate paritätisch zu vergeben (vgl. Abbildung 1).
Parité à la Brandenburg hätte gleichzeitig keinen Effekt auf andere soziostrukturelle Merkmale der Abgeordneten wie in Abbildung 2 ersichtlich. Das durchschnittliche Alter der Fraktionsmitglieder und der Akademikeranteil im Bundestag bliebe nahezu unverändert. Der Anteil der Abgeordneten mit einem abgeschlossenen Hochschulstudium liegt in allen Fraktionen weit über 50% und reicht im Falle der Grünen- und FDP-Fraktion an einen Wert von 90% heran. Einerseits könnte dies eine gute Nachricht für die Befürworter von Geschlechterparität sein: Gesetzliche Eingriffe in die demokratischen Nominierungsverfahren der Parteien verbessern den Anteil der Frauen, ohne die Repräsentation anderer sozialstruktureller Merkmale von Abgeordneten zu verändern. Andererseits könnten angesichts dieser Zahlen aber auch Zweifel am alleinigen Fokus auf Geschlechterparität aufkommen. Mit Blick auf den Bildungshintergrund der Bundestagsabgeordneten sind vor allem Nicht-Akademiker im Bundestag unterrepräsentiert und zwar in krasserem Maße als Frauen (die Akademikerquote in Deutschland liegt bei etwa 20%). Wenn die Parité-Befürworter überzeugt sind, dass Eigenschaften von Abgeordneten – also neben dem Geschlecht auch sozialstrukturelle Merkmale wie Einkommen und Bildung – und die damit verbundenen „spezifischen Perspektiven und Interessen“ relevant für künftige Politikinhalte sind, müssten sie dann nicht auch überlegen, wie ein Wahlsystem sicherstellt, dass auch Migranten, Bürgerinnen und Bürger ohne akademischen Hintergrund, oder Konfessionslose und junge Menschen besser im Bundestag repräsentiert werden?
Die folgenden Abbildungen zeigen die Zusammensetzung der jeweiligen Landeslisten nach Geschlecht (blau = Mann, ocker = Frau) bei der vergangenen Bundestagswahl. Während bei Grünen, Linken und SPD die Listen bereits weitgehend paritätisch zusammengesetzt sind, sind Männer bei CDU/CSU und vor allem FDP und AfD auf den oberen Listenplätzen überrepräsentiert. Auf den Landeslisten der AfD von Brandenburg und Thüringen finden sich überhaupt keine Frauen.