Die Entscheidungen über die Novelle der StVO bieten interessante Einblicke in das komplizierte Räderwerk des Bundesrates. Während in seinen Ausschüssen parteipolitische Positionen insbesondere von Grünen und Union gespielt wurden, hat das Plenum vieles, was umstritten war, wieder kassiert. Die StVO-Novelle ist damit typisch für die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner in der Bundesrepublik Kenia.
Mit der Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften will CSU-Verkehrsminister Andreas Scheuer verschiedene Neuerungen für Auto-, Radfahrer und Fußgänger umsetzen. So sollen Radfahrer besser geschützt (z.B. durch einen vorgeschriebenen Mindestabstand beim Überholen) und Falschparker härter sanktioniert werden. Da es auf den Straßen, Fuß- und Radwegen Deutschlands immer enger wird, ist politischer Streit in der Verkehrspolitik vorprogrammiert. Während einige das Auto weiter privilegieren möchten, wollen andere weitreichendere Reformen zu Gunsten von Rad- und Fußverkehr.
Der Bundesrat hat am 14. Februar über die Verordnung entschieden. Eine Reihe von Änderungen stand zur Debatte, worunter die Einführung eines allgemeinen Tempolimits besonders prominent ist. Interessant ist: Die einzelnen Änderungsvorschläge stammen überwiegend aus den Ausschüssen des Bundesrates. Dort sitzen, anders als im Bundestag, keine Abgeordneten, sondern die Ministerinnen und Minister der Landesregierungen. Die 16 Justizministerinnen und -minister sind also Mitglied im Rechtsausschuss, die 16 Umweltministerinnen und -minister im Umweltausschuss. Wenn die Ressortverteilungen auf Landesebene vom thematischen Zuschnitt der Bundesratsausschüsse abweichen, dann können die Landesregierungen auch mehrere Ausschussmitglieder benennen. Ein Beispiel: In Mecklenburg-Vorpommern fallen Strahlenschutz und Kernkraft in den Geschäftsbereich des Innenministeriums. Im Umweltausschuss, in dem auch Fragen zur nuklearen Sicherheit besprochen werden, ist daher neben dem Umwelt- auch der Innenminister als Ausschussmitglied bestellt (in der Abbildung finden sich daher ein überlappender schwarzer und roter Punkt). Ungeachtet davon hat jedes Land aber nur eine Stimme in jedem Ausschuss. Ministerinnen bzw. Fachleute klären dann untereinander ab, wer von ihnen zu welchem Punkt das Landesvotum festlegt. Die gewichtete Stimmverteilung entsprechend der Einwohnergröße der Länder im Plenum gilt nicht in den Ausschüssen. Zudem entscheiden die Ausschüsse mit einfacher und nicht mit absoluter Mehrheit wie das Plenum.
Anders als im Plenum müssen die Landesregierungen auch keine einheitliche Koalitionsposition auf Ausschussebene vertreten. Ganz im Gegenteil: Die Ministerinnen und Minister sind gemäß geltendem Ressortprinzip sogar dazu aufgefordert, eigene Präferenzen in „ihren“ Ausschüssen vorzubringen. Wie die Abbildung zeigt, ergeben sich daraus unterschiedliche parteipolitische Mehrheiten in den vier Ausschüssen, welche die StVO-Novelle beraten haben. So besitzen die Grünen im Umweltausschuss eine satte Mehrheit – er schlug auch das Tempolimit vor. Vermutlich hatte auch die SPD wenig gegen diesen Vorschlag. Als die Sozialdemokraten wegen der GroKo-Koalitionsdisziplin im Bundestag gegen ein Tempolimit stimmten, forderten sie die Grünen wenig diskret in der Bundestagsdebatte auf, das Thema doch mal über den Bundesrat zu spielen. Die Union dominiert wiederum den Innenausschuss – er wollte zahlreiche Verbesserungen für den Radverkehr zurückdrehen (z.B. den verpflichtenden Mindestabstand beim Überholen).
Auch mit Blick auf alle 71 Änderungswünsche bestätigt sich dieses Muster: Der Umweltausschuss verantwortet ausschließlich Vorschläge pro Verkehrswende, beim Innenausschuss überwiegen Vorschläge contra Verkehrswende (darunter auch besonders relevante Themen wie der Mindestabstand beim Überholen). Der Verkehrsausschuss (in dem Grüne, SPD und Linke eine gemeinsame Mehrheit haben) legte besonders viele Vorschläge pro Verkehrswende vor, wobei es sich hier vorwiegend Erhöhungen (im Vergleich zu den Vorschlägen aus dem Verkehrsministerium) von Bußgeldern etwa für Falschparker handelt. Die damit verbundenen Einnahmen werden wohl auch bei den anderen Kabinettsmitgliedern willkommen sein – folgerichtig fanden die entsprechenden Empfehlungen auch eine meist deutliche Mehrheit im Plenum.
Diesem Ergebnis liegt eine qualitative Kodierung sämtlicher Vorschläge zu Grunde. Änderungen, die den Autoverkehr stärker regulieren wollen (Stichwort Tempolimit, höhere Bußgelder für Falschparker) haben wir als „Pro Verkehrswende“ klassifiziert. Gegenläufige Änderungsvorschläge (z.B. ein Aufweichen der Abstandsregeln beim Überholen von Radfahrern) haben wir als „Contra Verkehrswende“ bezeichnet. Natürlich ist damit keine inhaltliche Bewertung verbunden. In einer pluralen Demokratie darf man über ein Tempolimit ebenso streiten, wie über die Frage ob 20€ nicht eine zu hohe Strafe sind, wenn Falschparker z.B. Schulkinder gefährden.
Die Vorschläge des von Grünen, SPD und Linken dominierten Umwelt- und Verkehrsausschusses waren also vor allem Pro und des unionsdominierten Innenausschusses vor allem Contra Verkehrswende. Dass hinter diesem Muster nicht ausschließlich fachliche Einschätzungen der Fachleute in den jeweiligen Ressorts, sondern eben auch unterschiedliche politische Überzeugungen der Grünen bzw. der Union stehen, ist keine sonderlich abenteuerliche Vermutung. Beweisen können wir es jedoch nicht, da die Bundesratsausschüsse nicht öffentlich tagen. Allerdings brachten die Ausschüsse auch zahlreiche technische Verbesserungsvorschläge ein. Dass die umfassenden Erfahrungen der Länder beim Verwaltungsvollzug in die Bundesgesetzgebung einfließen, dürfte einer der wenigen unumstrittenen Vorzüge des deutschen Föderalismus sein.
Insgesamt zeigt aber auch die neue Forschung zu den Ausschüssen dass Parteien über „ihre“ Ausschüsse bestimmte Anliegen forcieren und dadurch regelmäßig gegensätzliche Beschlussempfehlungen zur derselben Vorlage das Plenum erreichen.
Ein Antrag eines Ausschusses macht noch keinen Änderungswunsch des Bundesrates. Am Ende muss das Plenum des Bundesrates zustimmen. Durch die abweichenden Stimmregeln und das Ressortprinzip weichen die (partei-)politischen Kräfteverhältnisse im Plenum und auf Ausschussebene voneinander ab. Im Plenum sitzen die Gesandten der Landesregierungen und geben die Stimmen ihres Bundeslandes en bloc ab. Mit „Ja“ oder „Nein“ kann ein Land allerdings nur dann stimmen, wenn sich die jeweiligen Koalitionsparteien einig sind. Die Landesregierungen sind heutzutage allerdings oft politisch recht farbenfrohe Konstellationen, wie etwa die Kenia-Koalitionen in Sachsen und Brandenburg oder Jamaica in Schleswig-Holstein. Einigkeit ist da insbesondere mit Blick auf die Verkehrspolitik schwer herzustellen. Finden die Kabinette keine gemeinsame Position, enthält sich das Bundesland gemäß den sogenannten Bundesratsklauseln in den Koalitionsverträgen. Nun wirken diese Enthaltungen aber effektiv wie Gegenstimmen, da die Vorschläge im Plenum eine absolute Mehrheit benötigen.
Im Plenum werden Fragen positiv formuliert – „Wer stimmt für die Ausschussempfehlung?“ – und anschließend wird überprüft, ob eine absolute Mehrheit von 35 Stimmen erreicht wird. Egal ob Nein-Stimme oder Enthaltung: Die Hand des Bundeslandes bleibt bei Uneinigkeit in der Regierungskoalition in der Abstimmung unten. So machte der baden-württembergische Verkehrsminister Winfried Hermann von den Grünen in seinem Wortbeitrag noch implizit deutlich, für das Tempolimit zu sein. Aus Koalitionstreue zur CDU stimmte Baden-Württemberg dann allerdings nicht mit Berlin und Bremen, die als einzige Länder die entsprechende Ausschussempfehlung unterstützt haben.
Durch ihre Regierungsbeteiligungen in den Ländern und die Bundesratsklauseln haben heute sowohl die Grünen, die SPD als auch die Union die Möglichkeit, Ausschussempfehlungen im Plenum zu blockieren. In der vielleicht nicht guten aber mindestens übersichtlicheren alten Zeit waren es entweder SPD oder Union, die ihre Bundesratsstimmen zu einem Veto bündeln konnten. Inzwischen ist aber eine Vervielfältigung des Vetopotentials einzelner Parteien eingetreten. „Große Würfe“ im Sinne weitgehender politischer Reformen werden damit unwahrscheinlicher. Das damit einhergehende Verwalten des Status quo mit nur inkrementellen Veränderungen sind einer breiten Öffentlichkeit kaum zu vermitteln.
Die Bundesratsentscheidungen zur Novelle der StVO weisen damit auf ein grundsätzliches Problem des politischen Systems der Bundesrepublik hin: In einem zunehmend zersplitterten Parteiensystem werfen die politischen Institutionen mit Vetomacht wie Kamelle beim Karneval um sich. Gestaltungsspielräume für politische Mehrheiten sind deutlich schwieriger zu finden.